Hildegard - Prophetin in der Zeit
von Dr. Wolfgang Schuhmacher
Prophet kann man nicht werden
Zum Propheten wird man von Gott berufen
„Und siehe, im 43. Jahr meines Lebens, als ich in großer Furcht und zitternder Aufmerksamkeit mit einer himmlischen Vision befasst war, schaute ich einen strahlend hellen Glanz, in dem eine Stimme von Himmel an mich erging, die zu mir sprach:“
„>>Du gebrechlicher Mensch, Asche von Asche, Fäulnis von Fäulnis, sage und schreibe, was du siehst und hörst. Aber weil du furchtsam bist zum Reden und einfältig zu Auslegen und ungebildet, um es aufzuschreiben, sage und schreibe das nicht auf nach der Sprache der Menschen noch nach der Einsicht menschlicher Erfindung noch nach dem Willen menschlicher Gestaltung, sondern gemäß dem, was du droben in den himmlischen Bereichen in des Wundertaten Gottes siehst und hörst.<<“
Gleichsam wie die Propheten im Alten Testament wird Hildegard von Gott in Dienst genommen. Sie weigert sich, hat Angst, wird durch allerlei Krankheiten geplagt, willigt schließlich in den Auftrag Gottes ein und wird wieder gesund und beginnt mit ihrem Werk.
Aus der privaten Vision der Kindheit und all den weiteren visionären Erfahrungen der folgenden Jahre wird nun Berufung. Hildegard erfährt sich als Prophetin. In einem Brief beschreibt sie sich „wie eine Posaune, die den Ton (Gottes) zwar erklingen lässt, ihn aber nicht selbst hervorbringt. Denn ein anderer bläst in sie hinein, damit sie töne.“ Als Prophetin ist Hildegard ein Werkzeug Gottes.
Hildegards Gabe bleibt nicht verborgen. Zunächst erfährt es nur ihr Vertrauter, der Mönch Vollmar und schließlich auch Kuno, der Abt des Klosters. Ihre Vita beschreibt, dass die Mainzer Kirche, vermutlich Erzbischof und Klerus, auf sie aufmerksam werden, ihre Schriften und Visionen prüfen und zu dem Ergebnis kommen, dies komme von Gott und aus der prophetischen Begnadung. Schließlich erhält sie für ihr prophetisches Wirken auch den Segen des Papstes.
Anders als andere bekannte Frauen der Kirche (wie Theresa von Avila oder Mechthild von Magdeburg) sind es weniger die innerlich-mystischen Erfahrungen, die Hildegard beschäftigen. Sie beschreibt durch diese Offenbarungen theologische Überlegungen über Gott und seine Schöpfung. Bei der Entfaltung ihrer Visionen konzipiert sie komplizierte Gedankengebäude über den Schöpfungswillen Gottes, über die Sünde der Menschen, über die Möglichkeit des Heils. So zeigt sich Hildegard als eine systematische Theologin. Zugleich spricht sie vom menschlichen Handeln, von Tugenden und Lastern. Heute würden wir sagen: Sie ist eine kirchliche Moraltheologin und Sozialethikerin. Dabei tritt sie teils mit hohem Anspruch auf, schreibt und übermittelt auch bedeutenden Persönlichkeiten (wie dem Kaiser) unbequeme Wahrheiten mit großer Offenheit. Sie deutet die Zeichen der Zeit und ermahnt zum richtigen Handeln. Eben darin erweist sie sich als eine Frau, die in der Tradition der Propheten und Prophetinnen des Alten Testaments steht.
Wie bei den Propheten des AT geht es nicht zuerst darum, eine noch nicht geschehene Zukunft vorherzusagen. Prophetie will im Jetzt und heute Gottes Willen so ansagen, dass sich Veränderungen im Verhalten der Menschen ergeben können und müssen. Prophetie zielt immer auf Umkehr, auf Lebensveränderung zum Guten und darin auf eine veränderte Zukunft. Und darum geht es auch Hildegard. Mit ihren Ermahnungen an Fürsten, Bischöfe und Äbte will sie dazu verhelfen, zur guten Ordnung Gottes zurückzufinden.
Die Hildegard-Figur von Karl-Heinz Oswald
Die Bronzefigur, die der Künstler Karl-Heinz Oswald anlässlich der Erhebung Hildegards zur Kirchenlehrerin für die kath. Kirchengemeinde St. Hildegard und St. Rupertus auf dem Rupertsberg in Bingen-Bingerbrück geschaffen hat, sieht Hildegard in der Tradition der alttestamentlichen Propheten. Hildegard ist hörende und schauende. Wie der Prophet Elia (1. Könige 19,19-21) trägt sie einen Prophetenmantel als Symbol ihres göttlichen Auftrages, der bis zu den Menschen heute reicht. Die Hände sind unter dem Mantel verborgen. Nicht Hildegard selbst handelt. Gott handelt durch sie. Hildegard ist nur Gottes Werkzeug, die Posaune, die Gott ertönen lässt. Der Mantel der Prophetin ist Zeichen ihrer Berufung und ihrer Sendung.
Die Figur der Hildegard strahlt zugleich Ruhe und Bewegung aus. Das Zittern der ersten Schau als Kind hat sie überwunden. Das Staunen über Gott und sein Werk der Liebe aber ist geblieben. Gott hat sie als schwachen Menschen in die Verantwortung gerufen. Und Hildegard hat sich dem göttlichen Auftrag gestellt.
Aus dem ängstlichen Mädchen ist die Prophetin der Deutschen geworden. Noch heute ruft sie vom Rupertsberg am Rhein-Nahe-Eck.
Der Mantel der Prophetin